Eine spannende Geschichte aus der Vergangenheit geschrieben aus der Feder
des Autors Alex Capus.
3520 Meter lang hatte er werden sollen und das Kernstück
einer Bahnlinie, die Bern und Basel verbindet. Mit dem Bau des Tunnels durch
die Wasserfalle sollte für die Juradörfer Mümliswil und Reigoldswil das
Eisenbahnzeitalter anbrechen. Nach elf Monaten war der Traum vom Anschluss an
die weite Welt vorbei. Zurück blieben erboste und betrogene Dörfler und
Tunnelarbeiter.
Lange vor dem ersten Spatenstich begann in Mümliswil und
Reigoldswil der Aufschwung. Die Einheimischen bereiteten sich vor auf den Strom
von Italienern, Montenegrinern, Deutschen und Franzosen, die den Tunnel bauen
sollten. Alle nahmen hohe Kredite auf, um ihre Dachstöcke und Scheunen
auszubauen zu Arbeiterwohnungen.
Die Juradörfer Reigoldswil und Mümliswil schlossen sich
im Frühling 1870 zusammen, um einen Tunnel zu graben durch den Berg, der sich
tausend Meter hoch zwischen ihnen erhebt. Durch den Tunnel sollte eine
Eisenbahn führen, die erstens Reichtum in die armen Täler bringen, zweitens die
Deutschschweizer Hauptstädte Basel und Bern auf kürzestem Weg miteinander
verbinden und drittens die wichtigste Verbindung zwischen Deutschland und
Italien werden sollte. Gross war deshalb die Begeisterung der Dörfler, als im
Herbst 1874 die Tunnelarbeiter mit ihren Maschinen auffuhren und zu graben
anfingen. Aber sie hatten die Rechnung ohne die nahe Kleinstadt Olten gemacht,
die dank der Eisenbahn zu Macht und Wohlstand gekommen war.
Stephensons Idee
Der Berg heisst Wasserfalle, da sich auf seiner
nördlichen, der Reigoldswiler Seite, ein Bach über eine hohe Felskante stürzt.
Dass sich das Juragebirge nirgends so leicht durchstossen lässt wie hier, war
den Ingenieuren schon aufgefallen, als es in der Schweiz noch keine einzige
Bahn gab.
Im Herbst 1850 hatte die Landesregierung den englischen
Einsenbahnpionier Robert Stephenson, dessen Vater George die Dampflokomotive
erfunden hatte, mit dem Entwurf eines Schienennetzes für den jungen
Eidgenössischen Bundesstaat beauftragt. Bis dahin war die Idee weit verbreitet,
die drei Deutschschweizer Hauptstädte Basel, Bern und Zürich jeweils auf der
kürzestmöglichen Strecke, also in einem Dreieck, miteinander zu verbinden. Die
westliche Seite dieses Dreiecks hätte die Wasserfallen-Bahn gebildet.
Dieser Plan gefiel all jenen Orten und Landschaften, die
auf einer Seite des Dreiecks lagen; diejenigen aber, die mittendrin im Dreieck
lagen oder weitab davon, konnten keine Freude haben. Also ging das Gerangel los
wie immer, wenn irgendwo eine Strasse oder eine Bahn gebaut wird. Es gab
Intrigen und politische Ränkespiele, und natürlich waren es die ahnungslosen
Dörfler aus Mümliswil und Reigoldswil, die zum Schluss das Nachsehen hatten.
Dass jemand an ihnen vorsätzlichen Betrug begannen hatte, ist heute, anderthalb
Jahrhunderte später, nicht mehr zu beweisen; aber erzählen, was damals geschah,
und herausfinden, wer vom Unglück der Dörfler profitierte: Das kann man.
Im Zentrum des Dreiecks – also weitab von allen drei
Bahnstrecken – lag die Kleinstadt Olten, die seit der Antike vom Handel und
internationalen Verkehr gelebt hatte. Schon die alten Römer hatten hier die
Aare überquert und die Pferde gewechselt, bevor sie über den Hauensteinpass
nach Augusta Raurica und weiter nach Gallien und Britannien zogen. Dass Olten
nun plötzlich weitab von allem modernen Verkehr läge, konnten die
selbstbewussten Bürger der Stadt nicht zulassen. Zu beweisen ist im Nachhinein
nichts mehr, wie gesagt – aber Tatsache ist, dass 1850, als Stephenson seinen
Bericht verfasste, ein Oltner Bürger in der Landesregierung sass: Das war der
hoch angesehene freisinnige Kaufmannssohn und Revolutionär Josef Munzinger,
Mann des Ausgleichs zwischen den katholischen Landgegenden und den
protestantischen Städten, erster Finanzminister der modernen Schweiz und
mitverantwortlich für die Schaffung des Schweizer Franken, der bis auf den
heutigen Tag gesetzliches Zahlungsmittel ist.
Tatsache ist auch, dass die Regierung von Stephenson ein
Projekt anforderte, in dem die Anbindung Basels an Bern und Zürich mit nur
einem Juradurchstich bewerkstelligt würde. Und Tatsache ist weiter, dass damit
aus Gründen der Geometrie die Idee des Dreiecks gestorben war. Gefragt war nun
eine Linie, die von Basel aus direkt ins Zentrum des Dreiecks führte. Und im
Zentrum des Dreiecks lag – auch das ist eine Tatsache – Olten.
Olten wird zum Eisenbahnknotenpunkt
Mit Feuereifer wurden nun Eisenbahnen gebaut, und zwar
sternförmig um den Knotenpunkt Olten. 1856 gingen die ersten Teilstrecken
ostwärts Richtung Zürich und südwärts Richtung Luzern in Betrieb, gleichzeitig
wurde am Hauenstein ein Tunnel gegraben, und 1858 traf von Norden her der erste
Zug der Schweizerischen Centralbahn aus Basel in Olten ein. Das Städtchen
sprenge seine mittelalterlichen Mauern, wuchs und gedieh und nahm jenen
Aufschwung, den die Juradörfer Mümliswil und Reigoldswil für sich erhofft
hatten. Die Idee der Wasserfallen-Bahn schien für alle Zeit begraben.
Aber dann vergingen ein paar Jahre und die Umstände
änderten sich. Die Oltner verloren ihre Vertretung in der Landesregierung, weil
Josef Munzinger ob der Ränkespiele auf dem politischen Parkett schwermütig
wurde und zurücktrat. Und dann – vielleicht konnte es nur nach dem Rücktritt
Munzingers geschehen – trat ein Gesetz in Kraft, das für die Oltner erhebliche
Scherereien bedeutete, für die Juradörfer aber neue Hoffnung. Das neue
Eisenbahngesetz von 1873 nämlich verlangte von den Bahnbetreibern, dass
Güterzüge jeweils auf der kürzestmöglichen Strecke transportiert wurden. Falls
also jemand eine Strecke baute, die beispielsweise Basel und Bern auf
kürzestmöglichem Weg miteinander verband, musste Olten einen grossen Teil
seines Verkehrs an die neue Konkurrenz abtreten.
Diese Chance wollten die Mümliswiler und Reigoldswiler
nutzen. Sie bildeten ein Komitee, machten Messungen und Pläne und Berechnungen.
Am 4. Juni 1873, fünf Monate nach In-Kraft-Treten des Gesetzes, beantragten sie
beim Kanton Basel-Landschaft ein Konzessionsgesuch zum Bau und Betrieb der
Wasserfallen-Bahn. Gross war dann das Erstaunen der Dörfler, als sie erfuhren,
dass nur einen Tag zuvor die Schweizerische Centralbahn ein genau gleiches
Gesuch gestellt hatte. Natürlich steht nirgends geschrieben, dass hinter diesem
zweiten Konzessionsgesuch eine Intrige der Stadt Olten steckte, die um ihre
privilegierte Stellung als Einsenbahnknotenpunkt fürchtete. Aber Tatsache ist,
dass im Direktorium der Centralbahn jahrzehntelang der Oltner Wirtesohn Johann
Jakob Trog sass und dass die wichtigste Strecke der Centralbahn die Linie Basel
– Olten war.
Der Aufschwung beginnt
Die Dörfler in ihrer Unschuld waren zufrieden.
Hauptsache, die Wasserfallen-Bahn wurde gebaut. Und in der ersten Zeit sah es
aus, als hätten Mümliswil und Reigoldswil allen Grund zur Zuversicht; denn
lange vor dem ersten Spatenstich begann der Aufschwung. Die Einheimischen
bereiteten sich vor auf den Strom von Italienern, Montenegrinern, Deutschen und
Franzosen, die den Tunnel bauen sollten. Alle nahmen hohe Kredite auf, um ihre
Dachstöcke und Scheunen auszubauen zu Arbeiterwohnungen. Ein Wirtshaus nach dem
anderen wurde eröffnet, Transportunternehmen, Kostgängereien und Krämerläden
gegründet, die Liegenschafspreise stiegen ins Unermessliche – es herrschte Hochkonjunktur.
Alles wurde auf Kredit gekauft und auf Kredit geliefert, alle gingen
füreinander kreuzweise Bürgschaften ein, stets im Hinblick auf das nahende
goldene Eisenbahnzeitalter.
Vorerst schien die Rechnung aufzugehen. Die Centralbahn
machte sich tatsächlich daran, die Konkurrenz zu ihrer eigenen Hauensteinlinie
zu bauen; zumindest sah es so aus. Auf beiden Seiten der Wasserfalle gingen je
250 Arbeiter ans Werk, schufteten zwölf Stunden pro Tag rund um die Uhr für
einen Lohn von fünf Franken und wollten nach Schichtwechsel unterhalten werden.
In Mümliswil gab es kurz nach Baubeginn 23 Kneipen – bei 1250 Einwohner; in
Reigoldswil immerhin 13. Glücksspieler reisten an, Gaukler und Damen von
zweifelhaftem Ruf. Um zu verhindern, dass zu viel Geld wieder aus den
Juratälern abfloss, wechselten einige Wirte und Händler den Arbeitern den Lohn
zu einem besonders vorteilhaften Kurs in selbst geprägten Münzen, die
ausserhalb des Dorfes keine Gültigkeit hatten. Ein Reigoldswiler Krämer namens
Theodor Bieder lancierte sogar eine Tabakmarke namens „Wasserfallen-Tabak“,
deren Markenzeichen eine aus dem Tunnel fahrende Lokomotive war.
Die undurchschaubaren Absichten der
Centralbahn
Es soll hier nicht behauptet werden, die Centralbahn habe
die Wasserfallen-Bahn nur zu bauen begonnen, um deren Verwirklichung letztlich
zu verhindern. Aber ebenso wenig möchte man seine Hand dafür ins Feuer legen,
dass sie deren Verwirklichung mit aller Kraft und allem Wissen angestrebt
hätte. Denn Tatsache ist, dass die Centralbahn, die bei allen anderen Bauwerken
stets grössten Wert auf Solidität und Qualität gelegt hatte, für den Tunnelbau
eine ziemlich unerfahrene und unbekannte deutsche Firma namens Schneider, Münch
& Jerschke engagierte, die offensichtlich bei den Banken nicht besonders viel
Kredit hatte und über wenig eigenes Geld verfügte. Damit wiederum soll nicht
etwa unterstellt werden, dass... – aber gut.
Am Nachmittag des 26. Oktober 1874 wurden unter
Böllerschüssen die Erdarbeiten begonnen und am 30. Oktober meldete das
„Solothurner Tagblatt“, offenbar schon unter bösen Vorahnungen: „Viele Arbeiter
aus aller Herren Länder haben sich eingefunden; wir wollen hoffen, es werde
alles so friedlich enden, wie es angefangen. Gott gebe es“.
Auf beiden Seiten des Bergs trieben die Arbeiter einen
Stollen in den Kalkstein. 3520 Meter lang hätte der Tunnel werden sollen;
innert eines knappen Jahres entstand ein Loch von 1360 Metern Tiefe auf der
Südseite und von vielleicht 500 Metern auf der Nordseite. Schon nach wenigen
Wochen aber kursierten die ersten Gerüchte. Es irritierte die Einheimischen,
dass Schneider, Münch & Jerschke offenbar so knapp bei Kasse war, dass der
Materialverwalter das Petrol für die Lampen nicht in grossen Mengen beschaffen
konnte, sondern Liter für Liter beim Krämer kaufte und dass er sich mit dem
Bezahlen sehr lange Zeit liess. Die Ingenieure von Schneider, Münch &
Jerschke seien nichtsnutzige Dilettanten, erzählte man sich im Dorf; der
Buchhalter saufe Portwein von früh bis spät, der Geometer mache seine Messungen
so irgendwie über den Daumen und überhaupt sei schon jetzt von blossem Auge zu
erkennen, dass die zwei Tunnelstollen einander verfehlen und irgendwo in der
Tiefe des Bergs enden würden.
Die Arbeiter treten in den Streik
Das waren Gerüchte. Sicher ist aber, dass zur gleichen
Zeit die Wasserfallen-Bahn zu Fall gebracht wurde – und zwar weder im
Tunnelstollen noch im Ingenieurbüro, sondern in gut geheizten Sitzungszimmern,
bei Zigarren und Wein und vertraulichen Gesprächen. Wer bei diesen Gesprächen
dabei war und worüber man gesprochen hat, weiss man nicht. Hingegen ist
bekannt, was gleichzeitig draussen auf der Baustelle geschah. Nachfolgend die
Meldungen des „Solothurner Tagblatts“.
31. Oktober 1874: „Die Centralbahn schreitet voran mit
Auszahlungen für enteignetes Land. Bereits sind hierfür 70000 Franken,
bestehend in sieben Zehntnern Silber, in der Amtsschreiberei Balsthal
angelangt“.
15. November: „Die Eisenbahnbauten rechts und links im
Lande bringen merklich reges Leben ins Land. Täglich reisen in Olten eine Menge
Italiener durch, die Arbeit am Wasserfallen-Tunnel suchen. Mümliswil soll
bereits eine grosse Ähnlichkeit mit Göschenen am Gotthard-Tunnel zeigen“.
19. Februar 1875: „Am 19. d. ist auf der ganzen
Eisenbahnlinie ein Streik ausgebrochen. Um sieben Uhr morgens kamen sämtliche
italienischen Arbeiter singend ins Dorf zurück und eine Stunde später rückten
die deutschen nach. Grund dieser Arbeitseinstellung soll sein, dass heute zum
ersten Mal im Akkord sollte gearbeitet werden und die Arbeiter behaupteten, es
verdiene kein Mann per Tag Fr. 2.50, was offenbar für dergleichen Arbeiten zu
wenig ist. Man ist hier gespannt, wie die Sache enden wird. Im Allgemeinen
beklagen sich die Arbeiter schon längstens über zu geringen Lohn; wenn zwei
Regentage in eine Woche fallen, können sie ihre Kostgeber nicht mehr
befriedigen. Es sind schon bedeutende Verluste zu verzeichnen. Es muss erwähnt
werden, dass auf jeden Zahltag die hiesige Polizei und die von Balsthal
requiriert wird, damit die Arbeiter sich ja nicht muxen dürfen wegen zu
geringem Lohn“.
16. März: „Gestern Abend circa 7 Uhr hat im Hauptschacht
in der Limmern eine Dynamit-Explosion stattgefunden, bei welcher fünf Personen
mehr oder weniger erheblich verletzt wurden, so dass wahrscheinlich
Amputationen vorgenommen werden müssen. Die Ursache dieses Unglücks konnte noch
nicht genau ermittelt werden, doch scheint der Hauptgrund in der mangelhaften
Beaufsichtigung von Seite der Baugesellschaft zu liegen. Gerechte Entrüstung
hat bei der gesamten hiesigen Bevölkerung auch das brutale Benehmen eines
Bauaufsehers hervorgerufen, welcher hiesige Bürger, die auf der Unglücksstätte
zur Hilfeleistung eilten, barsch zurückweisen wollte“.
15. April: „Heute Nacht 12 Uhr hat im Schacht Nr. 2 der
Arbeiter Jakob Baumgartner durch Bohren eines Loches in einem Stein, in dem
sich noch ein alter Dynamitschuss befand, eine Explosion verursacht, die ihn
beide Hände kostete und wahrscheinlich das Leben kosten wird. Der Arbeiter hat
sein Schicksal selbst verschuldet, indem er nicht nach Auftrag seines Meisters
bohrte“.
17. April: „Im hiesigen Bürgerspital ist gegenwärtig der
ausnahmshohe Stand von 83 Kranken. Der Grund davon liegt aber nicht in einer
herrschenden Epidemie, sondern in der grossen Zahl verletzter oder kranker
Eisenbahnarbeiter, die in der Nähe beschäftigt sind“.
27. April: „Zur Warnung. Die in hiesiger Gegend sich
aufhaltenden italienischen Eisenbahnarbeiter, welche sich bis anhin so ziemlich
ruhig verhielten, fangen nun auch an, die Gegend unsicher zu machen, wie dies
anderwärts geschieht, wo sie in grösserer Zahl auftreten. Vorgestern war ein
Rudel dieser Südländer im Gasthaus z. Falken in Solothurn und misshandelten
dort einen Adolph Rubitschung derart, dass er ins Spital gebracht werden
musste. Das Publikum wird daher gut tun, stets ein wachsames Auge zu haben und
bei nächtlichen Ausgängen auf alles gefasst zu sein. Der Chef des
Landjägerkorps hat der Polizeimannschaft Ordre erteilt, die Patrouillen zu
verdoppeln und stets mit geladenem Geschosse versehen zu sein“.
26. Mai: „ Letzten Sonntag hatten die Arbeiter Zahltag.
Notwendige Folge davon war, dass es am Sonntag wieder Prügeleien und andere
polizeiwidrige Auftritte absetzte. 6 Italiener wurden verhaftet“.
8. Juni: “Wie uns schon von vielen Seiten gemeldet worden
war, machen sich die italienischen Eisenbahnarbeiter das Vergnügen, in den
umliegenden Wäldern die jungen Vögel zu annexieren, um sich daraus einen
Leckerbissen zu bereiten“.
9. Juli: „In Mümliswil wurde am Mittwochabend dem
Eisenbahnarbeiter Wendolin Feisst beim Abladen von Dielen das rechte Bein unter
dem Knie zerschmettert. Dasselbe muss wahrscheinlich amputiert werden“.
27. Juli: „Das Gewitter vom Donnerstag hat grosse
Verwüstungen an den Tunnelarbeiten angerichtet. In wenigen Augenblicken schwoll
der Limmernbach zu einem schmutzigen Strome an, der eine Menge Baustangen und
Bretter, Karren etc. mit sich fort nahm und beinahe wären auch ein Mann und ein
Knabe dem tobenden Elemente zum Opfer gefallen, wenn nicht rasche Hilfe zur
Hand gewesen wäre“.
28. Juli: „Die Arbeiten an der Wasserfallen-Bahn nehmen
einen ruhigen Fortgang, obschon sich unerwartete, grosse Hindernisse diesem
Werk entgegenstellen – Hindernisse und Anfeindungen, welche anfangs nicht in
Sicht waren“.
30. Juli: „Am Freitagnachmittag ertranken beim Baden in
der Aare drei italienische Eisenbahnarbeiter, darunter zwei Brüder, von denen
der eine 16, der andere 18 Jahre alt war. Der Vater der Brüder, der auch hier
arbeitete, geriet bei der Unglückskunde fast in Verzweiflung“.
30. August: „Die Arbeiten an der Wasserfallen-Bahn sind
bis anhin trotz mannigfachen Hindernissen ziemlich vorgerückt. Ein Übelstand
macht sich hier aber wie sonst nirgends geltend und könnte leicht zu argen
Exzessen führen. Es sollte nämlich laut Reglement jeden dritten Sonntag des Monats
die Zahlung der Arbeiter erfolgen. Solcher Zahltag war nun schon zu
wiederholten Malen angesagt, bei Annäherung desselben wieder abgesagt worden,
so dass jetzt nach Verfluss von 14 Tagen noch nicht abzusehen ist, wann der
Zahltag erfolgt. Der Grund für diese zurückhaltende Zahlung mag vielleicht
bloss einzig aus Spekulation des Zinstreffnisses bei der Bauunternehmung zu
suchen sein“.
26. September: „Der Regierungsrat erhielt beunruhigende
Depeschen von Mümliswil. Man fürchtete Unruhen und Gewalttätigkeiten von Seiten
der am Wasserfallen-Tunnel beschäftigten Arbeiter, weil die Unternehmer seit 6
Wochen nicht mehr Zahltag machen. Die Regierung verstärkte die Polizei in
Mümliswil, traf Vorkehren für militärische Hilfe und sandte Herrn Vigier als
Kommissär an Ort und Stelle. Zu gleicher Zeit benachrichtigte sie das
Direktorium der Centralbahn und bat dasselbe, den Arbeitern den rückständigen
Lohn auf Rechnung der Unternehmer auszubezahlen“.
27. September: „Heute Morgen haben sämtliche Arbeiter die
Arbeit eingestellt und die Maschine, mit welcher gearbeitet wurde, unbrauchbar
gemacht. Das Direktorium der Centralbahn aber hat den erfreulichen Beschluss
gefasst, die rückständigen Löhne bis 25. September auszubezahlen, womit
Konflikt und Gefahr dermalen beseitigt ist“.
Der Baustopp hat verheerende Folgen für die
Dörfer
Gleichzeitig mit dem letzten Lohn bekamen sämtliche
Arbeiter die Kündigung, denn das Bauunternehmen Schneider, Münch & Jerschke
war in Konkurs gegangen – im Jura erzählte man sich, dass ein gewisses
Bankhaus, dessen Direktor ein Oltner war, der Firma keinen Kredit mehr geben
wollte. Die ausländischen Arbeiter zerstörten in der Wut Maschinen und
Werkzeuge, schossen ein paar Mal mit Pistolen aufs Baubüro und zogen fort. Dann
wurde es still an der Wasserfalle.
Für die Dörfler waren die Folgen verheerend. Überall
waren zerstörte Wiesen, abgesägte Obstbäume, erhoben sich drohend die
Schutthalden. Plötzlich standen die Arbeiterwohnungen leer, die mit fremdem
Geld gebaut worden waren; plötzlich fehlte den Gasthäusern die Kundschaft, und
die Fuhrunternehmen hatten keine Arbeit mehr. Allein in Mümliswil gingen 50
Familien Konkurs. Ein Mümliswiler Bäcker, der ohne Bezahlung Brot für mehrere
Tausend Franken geliefert hatte, zündetet eines Nachts aus Wut die Arbeiterkantine
an und wanderte nach Amerika aus. Ihm folgten Dutzende, die der Heimat
ebenfalls enttäuscht den Rücken wandten.
Zwar wurde die Centralbahn vor Gericht gezwungen, den
Dörfern eine Entschädigung zu zahlen. Gleichzeitig aber wurde sie von der Verpflichtung,
die Wasserfallen-Bahn umgehend zu bauen, enthoben. Interessanterweise aber hat
die Centralbahn ihre Konzession für die Wasserfallen-Bahn immer wieder
verlängern lassen, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein; erst 1916, als mit der
Eröffnung des Hauenstein-Basistunnels Oltens verkehrstechnische Vorrangstellung
auf alle Zeit gefestigt war, liess man die Konzession verfallen. Nun wäre es
kühn zu behaupten, die Centralbahn habe die Konzession nur behalten, damit
niemand anderes sie übernehmen konnte. Ebenso wenig aber lässt sich beweisen,
dass jemals die geringste Anstrengung unternommen worden wäre, die
Wasserfallen-Bahn doch noch zu realisieren. Jedenfalls dachte die Centralbahn
nicht daran, wenigsten die zwei Tunnelstollen, die den vier Kilometer breiten
Berg immerhin zur Hälfte durchstossen
hatten, zu sichern und zu erhalten; so zerfiel das begonnene Werk. In Mümliswil
wurden die grossen Steinquader, die für den Bau des Tunnelportals
herbeigeschafft worden waren, 1881 für den Bau einer Brücke über den Dorfbach
verwendet. Der Tunnel selbst verfiel.
Heute erinnert in Mümliswil nur noch das Wohnquartier
„Linie“ an den Eisenbahnbau; es steht auf dem ehemaligen Bahndamm, der mit
Aushubmaterial des Tunnelbaus aufgeschüttet wurde. Hin und wieder senkt sich
der Boden ein bisschen ab, sodass das eine oder andere Wohnhaus in eine schiefe
Lage gerät. Auch die auf den Tunnel zuführende schnurgerade Schneise ist noch
zu sehen; sie dient seit 1889 als künstliches Bett für den Dorfbach und seither
hat es in Mümliswil keine Überschwemmungen mehr gegeben. Auf Reigoldswiler
Seite liegt vergessen im Berg ein 60 Meter tiefer Vortunnel, der hinter dem
Bahnhof zum eigentlichen Wasserfallen-Tunnel geführt hätte. Der Tunnelboden
steht knietief unter Wasser, an der Decke bilden sich Stalaktiten.
Die Spuren des Tunnelbaus sind bis heute
sichtbar
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geschah es
immer wieder, dass im Berg ein Stück Tunnel einbrach, worauf bei Tageslicht
plötzlich eine Kuh im Boden versank oder auch ein ganzer Gemüsegarten und die
Bauern sich nicht mehr getrauten, mit ihren Fuhrwerken auf die Felder zu
fahren. Wie man sich im Dorf erzählt, sind noch spät im 20. Jahrhundert junge
Burschen auf der Mümliswiler Seite durch den vertikalen Lüftungsschacht hinunter
in den Tunnel geklettert und haben diesen voller Werkzeuge gefunden, als ob die
Arbeiter jeden Augenblick zurückkehren könnten. Wenn das stimmt, müssen es
mutige und geschickte Burschen gewesen sein; denn laut den Bauplänen führte der
Lüftungsschacht 125 Meter durch massiven weissen Jurakalk in die Tiefe. Heute
ist vom Schacht, der anderthalb Kilometer nördlich des Tunnelportals in einer
wild zerklüfteten Schlucht lag, nicht mehr viel zu sehen. Der Einstieg ist
verschüttet, zurückgeblieben ist ein Krater von drei Metern Durchmesser, in
dessen Mitte eine 20 Meter hohe Esche steht. In Mümliswil aber erzählen die
alten Männer einander heute noch, dass sie als Buben Steine in den Schacht
warfen und die Sekunden zählten, bis der Stein auf dem Tunnelboden aufschlug.